Fundstück

Ein "Tagebuch" aus alter Zeit

Fundstück des Monats November 2022

Manchmal sind es echte Dachbodenfunde, die ihren Weg zu uns ins Stadtarchiv finden.

Es sind Dinge, die von den Menschen, die sie einst erworben oder geschenkt bekommen haben, geliebt und sorgfältig aufbewahrt werden, bis sie irgendwann ihren Nutzen verlieren und irgendwo in Keller oder Speicher „verkröppt“ werden. Eines Tages, wenn diese Menschen schon längst nicht mehr sind, kommt irgend jemand und mistet aus. Dann tauchen die vergessenen Schätze aus der Vergangenheit wieder auf und erzählen ihre Geschichte… wenn sie denn jemanden finden, der sich dafür interessiert. Anderenfalls landen sie im Müll.

Unser Fundstück des Monats November ist ein solcher Dachbodenfund. Er überdauerte mehrere Jahrzehnte und einen Weltkrieg auf dem Speicher des Hauses Gewerbeschulstraße 6.  Es handelt sich um ein ca 19 x 25 x 3 cm großes Buch, dessen brauner Halblederband mit reicher goldfarbener Prägung verziert ist. Mit seinem dreiseitigen Goldschnitt macht das Buch einen kostbaren Eindruck – allerdings handelte es sich zu seiner Zeit (es dürfte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verkauft worden sein) eher um Massenware - wenn auch um teure Massenware. Jeder Monat wird von einer farbigen Aquarell-Illustration der bekannten Künstlerin Hermine Stilke (1804 – 1869) eingeleitet. Es gibt für jeden Kalendertag eine unbeschriebene und mit Jugendstilornamenten eingerahmte Seite zum Selbstausfüllen; ein Denkspruch für jeden Tag schließt die jeweilige Seite ab.

In einem Tagebuch werden üblicherweise persönliche Erlebnisse, eigene Aktivitäten, Stimmungen und Gefühle aufgeschrieben, und zwar ungefiltert und unzensiert. Darum sind auch Tagebücher wertvolle Zeugnisse der (Stadt-) Geschichte; man erfährt mitunter aus ihnen Dinge über das Alltagsleben der Menschen zu einer bestimmten Zeit, die man aus anderen Quellen nicht erschließen kann. Wir waren sehr gespannt zu erfahren, welche Erlebnisse die Besitzerin, Anna Boehm,  ihrem Tagebuch anvertraut haben mochte.

Doch um es vorweg zu nehmen: Das Tagebuch verspricht mehr, als es tatsächlich hält. Anna Boehm hat nur wenige Eintragungen vorgenommen, wobei sie in erster Linie Gedenktage, wie Geburts-, Heirats- und Sterbetage ihrer Familienangehörigen, notiert hat. Das ist aus genealogischer Sicht nicht uninteressant, jedoch lassen sich die entsprechenden Daten auch aus anderen Quellen ermitteln. Über Anna Boehms Seelenleben, ihre Freundschaften, ihre Sorgen und Nöte erfahren wir bedauerlicherweise nichts.

Dass sie so wenige Ereignisse festhielt, mag daran gelegen haben, dass Anna eben kein junges Mädchen mehr war, als sie das Buch bekam, sondern eine verheiratete Frau und Mutter. Sie hieß mit Geburtsnamen Anna Dorothea Pleiß und wurde am 13. März 1852 zu Stachelhausen als Tochter des Feilenschmieds Richard Pleiß (1823 - 1907) und seiner Frau Emma Ibach (1826 – 1868) geboren. Die Mutter starb, als Anna gerade 15 Jahre alt war. Kaum volljährig, heiratete sie den aus Sagan in Schlesien stammenden Sägenschmied Karl Gustav Eduard Boehm. Eintragungen, die sich auf den Ehemann beziehen, verraten trotz der Nüchternheit von Annas sonstigen Notizen eine deutliche Zuneigung; so lautet der Eintrag für den 12. August: „Im Jahr 1873 war an einem Dienstag unser Hochzeitstag!“ und für den 10. Januar: „In der Nacht vom 9. auf 10. im Jahre 1912 entschlief mein lieber Mann  Johann Carl Eduard Boehm im Alter von 65 Jahren nach 12jähriger Krankheit.“ Es war offenbar eine Liebesheirat. Zwei Jahre nach der Hochzeit kam 1875 der einzige Sohn Johann Carl Eduard zur Welt; die Eltern nannten ihn zärtlich „Edu“.

Annas Ehemann Eduard Boehm hatte zwischenzeitlich mit seinem Bruder Adolf die Firma Eduard & Adolf Boehm, Fabrik und Handlung in Stahl- und Eisenwaren gegründet. Die zunächst in der Birgderkamper Straße (heute Bismarckstraße) ansässige Firma stellte Schneidwerkzeuge aller Art, Sägen und Schlittschuhe her und betrieb Exporthandel. Unter dem 31. Januar notierte Anna Boehm in ihr Tagebuch: „An diesem Tage im Jahre 1888 hielten wir unseren Einzug in unser neugebautes Haus“. Das neugebaute Haus befand sich in der Gewerbeschulstraße; es war neben der ebenfalls neu errichteten Remscheider Gewerbeschule für einige Jahre das einzige Haus in der Straße und trug anfangs die Hausnummer 2, später dann, nach einer vor 1910 erfolgten Umnummerierung, die Hausnummer 6.

Nach dem Tod des Vaters am 10. Januar 1912 übernahm Annas Sohn Eduard die Geschäfte (Adolf war bereits 1891 verstorben). Bis 1941 war die Firma nachweislich am alten Standort in der Gewerbeschulstraße ansässig – was danach aus ihr wurde, ist unbekannt. Auch das weitere Schicksal von Anna Boehm ließ sich trotz aufwändiger Recherche bislang nicht in Erfahrung bringen. Nach dem zweiten Weltkrieg jedenfalls gehörte das Haus Gewerbeschulstraße 6 zunächst der Firma Alexanderwerk, später ging es in den Besitz der Werkzeugfabrik Budde & Hein über.

Eine Dame aus der Familie des Werkzeugfabrikanten Hein war es denn auch, die das Tagebuch der Anna Boehm auf ihrem Dachboden fand. Der Einband war durch einen erlittenen Wasserschaden deformiert, und das einst so prächtige Buch bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Frau Hein brachte es indes nicht übers Herz, dieses Stück Lebensgeschichte einer Frau, die lange vor ihrer Zeit schon gestorben war, ins Altpapier zu werfen, und trug es deshalb ins Stadtarchiv. Hier unterzog der Restaurator Matthias Beil das Buch einer gründlichen Reinigung und brachte den Einband wieder in Form. So aufgemöbelt war es würdig, unser Fundstück des Monats November 2022 zu werden!

 

Verfasst von: Viola Meike 

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