Fundstück

„Es kam nicht selten zu Streit und Fäustereien“ - Das Protokollbuch der Kranken- und Sterbelade zu Lüttringhausen ab 1807

Fundstück des Monats November 2023

Das Fundstück des Monats November verrät uns, dass sich im Jahr 1774 verschiedene Lüttringhauser Dorfs- und Kirchspiels-Einwohner zusammentaten und eine Kranken- und Sterbekasse gründeten, um durch eigene Beiträge sich und die ihrigen bei Krankheiten und Sterbefällen zu unterstützen. Sie entwarfen die Statuten und ließen zur Verwahrung der Kassenbücher und des Geldes eine Lade fertigen - daher der Ausdruck „Kranken- und Sterbelade“. Dem Gastwirt Johann Halbach wurde die Lade zur Verwahrung anvertraut, der darum den Titel „Ladenvater“ trug. Gewählt wurden  zwei Vorsteher, ein Schreiber und sechs Beisitzer. Der Vorstand musste laut Satzung alle vier Wochen in dem Hause, wo die Lade war, zusammenkommen; bei der Gelegenheit wurden die Beiträge eingesammelt. Sämtliche Regularien sind im Protokollbuch festgehalten, doch der Schriftführer lässt uns auch an eher negativen Aspekten aus der Gründungszeit teilhaben, indem er bemerkt: „Überhaupt vermehrte sich die Zahl der Mitglieder bei jeder Auflage; aber an Uneinigkeit und unrichtigen Begriffen von dieser Anstalt fehlte es bei vielen von dieser Gesellschaft nicht; es kam daher nicht selten zu Streit und Fäustereien“.  Einmal wurde ein gewisser Adolf Decker gegen den Ladenschreiber Christoph Tacke derart handgreiflich, dass es sogar zum Prozess kam!

Wir erfahren aus den Aufzeichnungen des Schreibers, einem Peter Carl Klein, dass es ursprünglich verschiedene Kassen für Männer und für Frauen gegeben hat. Er berichtet, dass am 19. Juli 1801 „die Weiber Cassa mit der Männer Cassa vereinigt worden ist, und nun mehro eine gemeinsame Cassa ausmacht, doch so, dass die Weiber Cassa kein Krankengeld zu genießen haben, sondern nur aus derselben beerdigt werden“. Deshalb war der monatliche Beitrag für Frauen erheblich geringer als der der Männer. Auch notiert der Schreiber Klein, dass zwischen dem 26. September 1790 und dem 22. März 1807 (also dem Zeitpunkt der Niederschrift) 33 Mitbrüder und 26 Mitschwestern mit Unterstützung der Sterbelade beerdigt worden seien. „Sie ruhen in Frieden bis an den frohen Auferstehungstag“, schließt er diese Betrachtung.

Im Remscheider Raum gab es bereits im 18. Jahrhundert private Hilfskassen, die ihre Mitglieder und deren Angehörige im Krankheits- und Sterbefalle absichern sollten. Ursprünglich waren diese Laden auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe beschränkt, wie etwa die Tuchmacherlade in Lennep, die bereits im Jahre 1728 bestand.  Auf die „Kranken- und Sterbe-Casse zu Lüttringhausen“ geht der frühere Stadtarchivar Heinrich Wilms in einem 1955 erschienenen Aufsatz ein und datiert die Gründung der Lade auf das Jahr 1774. Quellen nennt er dabei nicht, aber das nun vorliegende Protokollbuch beginnt mit der „Geschichtlichen Darstellung der Kranken und Sterbe Cassa – ihren Anfang, Fortgang und Schicksale bis auf diese Zeit“, und nennt, wie erwähnt, tatsächlich 1774 als Jahr der Gründung. Da das Stadtarchiv keine vergleichbaren Quellen aufweist, ist es naheliegend, dass das Protokollbuch zumindest bis 1955 noch in Remscheid lag und Heinrich Wilms Einsicht nehmen konnte. Danach ist der Verbleib unklar. Der letzte Eintrag stammt von einem Vorstandsmitglied namens Fritz Welp, seinerzeit Schriftführer der Kranken- und Sterbelade. Er schreibt unter dem 20. Februar 1920:

„Bis auf heute Abend 6 Uhr bei Herrn Ernst Tillmanns ordnungsmäßig einberufene Generalversammlung der ersten und ältesten Sterbe Auflage, deren Tagesordnung 6 Punkte hatte, konnten weiter keine Beschlüsse gefasst werden, da weiter keine Mitglieder erschienen waren außer dem Vorstand.“

Danach dürfte sich die Vereinigung aufgelöst haben. Anzunehmen, dass das Buch bei Fritz Welp verblieben ist. Der Feilenhauer Johann Friedrich Welp wurde am 9. März 1854 geboren. Er starb am 29. November 1939 in Lüttringhausen. Sein Sohn, der ebenfalls Johann Friedrich hieß, starb ein Jahr später. Damit dürfte das Buch – wenn es sich noch im Besitz der Familie Welp befunden hat – an dessen Sohn Friedrich Karl gefallen sein. Dieser wiederum starb am 10. Oktober 1972. Seine Witwe Ilse lebte ausweislich der Remscheider Adressbücher noch viele Jahre im selben Haus in der Remscheider Straße.  Die gemeinsame Tochter starb im Jahr 2019. Es ist natürlich mangels eindeutiger Belege rein spekulativ, aber denkbar, dass das Buch nach dem Hinscheiden der Urenkelin des letzten Schriftführers nicht mehr innerhalb der Familie weitergegeben werden konnte und darum seinen Weg über eine Haushaltsauflösung in das Stadtarchiv fand. Genauso gut ist es möglich, dass Fritz Welp das Buch dort beließ, wo auch die Lade selbst ihren Platz hatte: beim Gastwirt Ernst Tillmanns. Das ist auch insofern nicht abwegig, als dort (mindestens) bis 1944 eine Kindersterbeauflage bestand. Ernst Tillmanns wurde am 16. November 1874 in Lüttringhausen geboren und starb am 20.07.1946. Seine Witwe Klara Wilhelmine Lemmer lebte noch bis 1971; der gemeinsame Sohn Ernst starb im Februar 1982. Die ehemalige Tillmanns’sche Gaststätte war viele Jahrzehnte lang geselliger Treffpunkt im „Dorp“ – 2005 wurde das denkmalgeschützte Ensemble, bestehend aus zwei Fachwerkhäusern, nach längerem Leerstand verkauft. Denkbar also, dass das Buch dort auf dem Dachboden schlummerte oder von einem der letzten Bewohner als Andenken mitgenommen wurde.

Wie die Dinge auch immer gelegen haben, wir sind froh und glücklich, dass dieses wertvolle Stück Lüttringhauser Ortsgeschichte – von der durch diverse Brände und kriegsbedingte Verluste ohnehin nicht mehr viel überliefert ist – nicht in unkundige Privathand oder, schlimmer noch, in die Papiertonne gelangt ist, sondern unsere Lüttringhauser Bestände bereichert, wo sich hoffentlich in nicht allzu ferner Zukukunft jemand findet, der die Inhalte auswertet und der interessierten Öffentlichkeit präsentiert.

 

Verfasst von: Viola Meike

Gertenbachstrraße, Gaststätte Ernst Tillmanns, 1957

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